Kira wirkte ziemlich unsicher, als sie sich vorstellte. Sie wirkte irgendwie so… eingeschüchtert. Sophie wollte gar nicht an das denken, was diese arme Frau vermutlich schon alles durchmachen hatte müssen. Ihre Arme waren voller blauer Flecken. Manche waren schon fast wieder verheilt, manche waren etwas frischer. Solche Verletzungen zog man sich nicht zu, wenn man stolperte und auf den Boden fiel.
In Momenten wie diesen wurde Sophie wieder bewusst, was für ein Glück sie mit ihrer Adoptiv-Familie hatte. Sie hätte auch in einem Waisenhaus oder bei einer ganz schrecklichen Familie landen können, doch Sandrine hatte sie bei sich aufgenommen und ihr eine recht behütete Kindheit und Jugend geschenkt. Es war zwar vielleicht riskant eine wildfremde Person bei sich zu Hause aufzunehmen, aber es wäre einfach unmenschlich Kira wieder zurück auf die Straße zu schicken.
„Ok…“, erwiderte sie, „Dann komm einfach mit mir mit und ich zeige dir alles.“
Sophie verließ die Küche und führte Kira zum Badezimmer, während Jessica in der Küche blieb und sich mit Sophies Mutter unterhielt. Die beiden verstanden sich gut, was Sophie nicht wunderte, denn sowohl Jessica als auch Dr. Parker waren nicht schlecht im Kontakte knüpfen und Smalltalk führen.
Nachdem Sophie ihrem Gast das Bad gezeigt und ihr ein paar frische Handtücher gegeben hatte, ging sie wieder zurück in die Küche, um kurz mit ihrer Mutter über ihre neue Mitbewohnerin zu reden.
„Also Kira wird jetzt bei uns einziehen?“, fragte Sophie ihre Mutter auf Englisch, denn sie wollte sich vor Jessica nicht auf Französisch mit Sandrine unterhalten. Das wäre ziemlich unhöflich.
„Ich verstehe ja dass du misstrauisch bist…“, erwiderte Mrs. Parker, „… aber ich konnte das arme Mädchen nicht einfach auf der Straße lassen. Ich habe schon so viele junge Frauen wie sie gesehen. Verängstigte Frauen… Frauen, die niemanden haben… Frauen wie Cécile.“
Während Sophie sich die Worte ihrer Mutter anhörte, schenkte sie sich auch eine Tasse Tee ein, denn Sandrine hatte eine große Kanne für alle gemacht. Während der Jahre, die sie in England verbracht hatten, waren sie irgendwie alle zu Tee-Junkies geworden. Wann immer es in dieser Familie etwas zu besprechen gab, wurde als erstes eine Kanne Tee gemacht.
„Bitte lass Cécile da raus. “, sagte Sophie ein wenig verärgert. Die Sache schien Sandrine wirklich am Herzen zu liegen, denn sonst hätte wohl nicht Sophie leibliche Mutter erwähnt. Das war unfair. „Sie scheint ja wirklich Hilfe zu brauchen…“, fuhr Sophie fort, „Aber glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, sie gleich hier einziehen zu lassen? Weiß Dad überhaupt schon davon?“
Sophie versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen, denn sie wollte ja keinen Streit anfangen, sondern einfach nur wissen, ob Sandrine sich die ganze Sache wirklich gut überlegt hatte.
„Ich weiß nicht, wie ich ihr sonst vernünftig helfen soll.“, antwortete Sandrine, „In Marseille oder in London habe ich immer gewusst, wo ich Frauen wie sie hinschicken muss, aber Forks gibt es einfach keine guten Einrichtungen für Obdachlose ohne Papiere… und jede andere Art der Hilfe wäre sinnlos.
Alexander weiß noch nichts davon. Er ist ja gerade wegen seiner Knorpel-Forschungsarbeit bei einer Kollegin in Seattle und da wollte ich ihn tagsüber nicht stören… ich werde ihn aber heute noch anrufen… mach dir darüber keine Sorgen. Ich werde ihm schonend beibringen, dass wir jetzt noch eine neue Mitbewohnerin haben. Außerdem ist es ja nur vorübergehend…“
„Okay…“, erwiderte Sophie, „Dann sollten wir wohl das Bett im Gästezimmer frisch überziehen…“
Es war vermutlich sowieso sinnlos zu versuchen, Sandrine von ihrem Plan abzubringen. Außerdem schien Kira ja ein ganz nettes Mädchen zu sein. Vielleicht war sie ja sogar eine Bereicherung für die Familie Parker.
„Ja… genau das werde ich jetzt tun… das arme Mädchen braucht ja ein Zimmer…“, murmelte Sandrine und verließ die Küche.
Sophie nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse und wandte sich schließlich an Jessica:
„Es tut mir Leid, dass wir unsre Familienprobleme so vor dir ausdiskutiert haben, aber ich wollte die Sache irgendwie gleich klären… Ich hoffe das war dir jetzt nicht unangenehm oder so…“